Zur Kunst von Belinda Kazeem-Kamiński
Pygmaios bedeutet im alten Griechisch faustgroß, daumenlang. Und die Pygmaioi waren ein mythisches Zwergvolk im Süden. Als nun tatsächlich Menschen von sehr kleinem Wuchs in Zentralafrika entdeckt wurden, hat man ihnen im 19. Jahrhundert den Namen der „Pygmäen“ gegeben. In der Erforschung des Lebens, der Kultur und der Religion dieser Menschen kommt Paul Schebesta eine herausragende Bedeutung zu. Er wurde 1887 in Mähren geboren, trat in den Orden der Steyler Missionare ein und erhielt im Ordenshaus St. Gabriel in Mödling seine Ausbildung. 1911 wurde er zum Priester geweiht. Als Ethnologe und Sprachforscher erlangte Paul Schebesta große Bedeutung. Ab den 30er Jahren widmete er sich vor allem der Erforschung der Bambuti in Zentralafrika, zu denen er vier Expeditionsreisen unternahm (1929, 1934/35, 1949/50, 1954). Er beherrschte europäische Sprachen genauso wie einige afrikanische Sprachen. Die Bambuti, für die er sich zeitlebens einsetzte, um sie vor drohender Vernichtung zu bewahren, verliehen ihm die Würde eines Baba wa Bambuti, eines Vaters der Bambuti. 1967 ist Paul Schebesta im Alter von achtzig Jahren in St. Gabriel gestorben.
Die Arbeiten von Belinda Kazeem-Kamiński, Texte, Filme, Installationen, Fotos, Performances, lenken die Aufmerksamkeit von Betrachterinnen und Betrachtern auf die Gegenwart Schwarzer Personen. Das geschieht jedoch nicht in der Form einer Dokumentation gewesenen Unrechts und erlittener Gewalt. Es geht in diesen Arbeiten um eine Gegenwart, eine Anwesenheit, die wahrgenommen werden will. Vielfach wurden und werden Schwarze Personen ja nicht als Person wahrgenommen, sondern als Objekt der Forschung, als exotisches Wesen, als unkultivierte Menschen, denen niedrige Dienste zugewiesen werden. Bei ihren Recherchen ist Belinda Kazeem-Kamiński jenen Fotos begegnet, die Paul Schebesta auf seinen Forschungsreisen aufgenommen hat. Sie zeigen ihn und Vertreter der belgischen Kolonialmacht gemeinsam mit „Pygmäen“. Auf manchen der Fotos ist Schebesta nur als Schatten präsent, den er oder die Fotoapparatur auf die Fotografierten wirft. Auffallend sind die Posen, die von den Weißen eingenommen werden. Sie drücken Überlegenheit aus. Im Nebeneinander von Weiß und Schwarz wird deutlich gezeigt, wer hier der Herr ist. Wir können annehmen, dass Schebesta den Schwarzen zugetan war. Doch selbst dort, wo er in einer eher freundschaftlichen Geste den Arm auf ihre Schultern gelegt hat, wird die Überlegenheit des Patriarchen spürbar. Hat er sie als Personen wahrgenommen? Konnte er sie als Personen wahrnehmen?
Wir wissen, dass der Vorgang der Beobachtung das Beobachtete beeinflusst, dass es also keine streng objektive Beobachtung gibt. Im subatomaren Bereich gilt die Unschärferelation, darauf hat Werner Heisenberg hingewiesen, dass nämlich keine präzisen Vorhersagen über das Verhalten einzelner Teile gemacht werden können, sondern nur statistische Angaben. Analoges gilt auch für die Wahrnehmung im Alltäglichen: Die Erwartung, die persönliche Einstellung, das Selbstbild beeinflussen das Sehen oder Hören. Das vergangene Jahrhundert ist in einem ganz besonderen Maß das Jahrhundert der Entdeckung des Anderen gewesen. Viele Bereiche der Wirklichkeit, die davor nicht oder kaum wahrgenommen worden sind, kamen in den Blick: die Welt der „Geisteskranken“, ihre Kunst, die Welt der Kinder, die Welt behinderter Menschen, fremde Kulturen und Menschen. So wurden auch schwarze Menschen als Schwarze Personen entdeckt.
Die Kunst von Belinda Kazeem-Kamiński ist intensiv mit dem Vorgang der Wahrnehmung des Anderen befasst. Sie macht das, indem sie auf die Gegenwart des Anderen hinweist, indem sie das Andere oder die Anderen verbirgt. Sie legt farbige Flächen über die in den Fotos anwesenden Schwarzen Personen. So bleiben die Weißen im Bild sichtbar. So wird auch zugleich die Pose der Weißen, ihre Voreingenommenheit und ihr Bild von sich selbst sichtbar. Beides verhindert die Wahrnehmung des Anderen als Anderer. Wenn der Schatten Schebestas oder seiner Apparatur auf die Fotografierten fällt, geschieht etwas Ähnliches. Die Eigenmacht der überlegenen Person verfälscht die Wahrnehmung des Anderen. Wieder verschwindet der Andere hinter einer Farbfläche, er oder sie gibt sich nicht zu erkennen.
Die Kunst von Belinda Kazeem-Kamiński folgt den Spuren vergessener Menschen in Archiven und Museen, nimmt die Würde Schwarzer Personen wahr und behütet sie sorgfältig. Dazu dient das behutsame Umgehen mit Gegenständen der Erinnerung, ja insgesamt die Art und Weise, wie Erinnerung in diesem Werk gestaltet wird. Die Art und Weise der Annäherung an Personen und Ereignisse, diese sehr langsame Eingehen, ist Ausdruck von Fürsorge. Das Offene der Arbeiten, ihre Absage an Manipulation oder Vereinnahmung der Betrachter, zeichnet die künstlerische Vorgehensweise von Belinda Kazeem-Kamiński durchgehend aus. Erstaunlich ist, wie still es in den Arbeiten von Belinda Kazeem-Kamiński zugeht. Stille und Langsamkeit tragen das Geschehen. Sie ermöglichen den Betrachtenden, in sich selbst ein Echo des Wahrgenommenen zu bewahren, ohne Vereinnahmung durch überwältigende Bilder und Töne.
Der Begriff „Heimsuchung“ („haunting“) spielt im Werk von Belinda Kazeem-Kamiński eine bedeutende Rolle. Heim-Suchung: Etwas sucht seinen Platz in unserem Bewusstsein, mehr noch in unserem Körper, es sucht in ihm beheimatet zu sein. Es sind alle jene Erfahrungen, die als vergangene verdrängt werden, nicht in der Gegenwart zugelassen werden sollen. Sie sind doch da und verstellen den Weg in eine Zukunft. Sie stehen der Zukunft im Weg. Werden sie jedoch zugelassen, wird ihnen im Körper und Bewusstsein Raum geschenkt, dann haben sie Teil an unserem Leben, bereichern dieses Leben und ermöglichen Zukunft. Möglicherweise sind es schmerzliche Erfahrungen erlittenen Unrechts, die erst dann, wenn sie ihr Heim in mir gefunden haben, mir die Möglichkeit der Versöhnung schenken. Die Kunst von Belinda Kazeem-Kamiński ist in diesem Sinn eine Kunst der Heimsuchung. Was heimsucht, findet hier heim, wird fürsorglich behandelt und ermöglicht Zukunft.
Gustav Schörghofer SJ