Ein Wasserfall, ein Fastentuch
Bin ich, ein Wasserfall unter vielen, aber nicht mehr der geringste, seit mir eine Überhöhung weit weg von mir widerfahren ist, inmitten der Natur, der ich angehöre, für Menschenaugen eine Veranschaulichung der Wiederkehr des immer Gleichen, einem Friedrich Nietzsche während eines Waldspazierganges aufgestiegen, der ihn vielleicht an einem meiner Brüder vorbeigeleitet hat, wenn ich doch zur Schneeschmelzezeit mit weit mehr Wassermassen als in Sommern zu Tale mich stürze, ja wenn doch im Winter zu mir Aufschauende sich in Nachsicht zu üben haben, daß ich mich da kaum rühre, da mir mein Äußeres, zu einem Überwurf aus Eis erstarrt, das Ansehen eines Toten oder Scheintoten verleiht? dank dem Segen und auch Fluch meiner technischen Reproduzierbarkeit, keineswegs den Werken der Kunst vorbehalten, mag ich in filmischer Wiedergabe zu einer immer gleichen Wiederkehr meiner gefilmten Minuten bewogen oder gezwungen werden, und hätte mich Filmender sich meiner so ernsthaft angenommen, als müßte er für die Nachwelt meine letzten Stunden dokumentieren, weil mein Verschwinden bevorstünde, ob nun durch einen Bombenabwurf oder durch einen Bergsturz. lebensvoll in der Natur vorhanden, die mich hervorgebracht hat, bin ich Wasserfall in den Augen der mich betrachtenden Wanderer ein immer erst jetzt sich manifestierendes Jetzt – ohne daß die außerhalb dieses meines Jetzt weiterhin vergehende Zeit in diesem Jetzt erstarrt wie im Winter auf Zeit mit mir: zu allen anderen Jahreszeiten erneuert sich ohne Unterbrechung, weil ununterbrochen, mein ‚Jetzt, jetzt!‘, aber so, als wäre vor ihm nie ein anderes, nie ein gleiches Jetzt gewesen. immer ist jetzt erst jetzt, wohl auch dann, wenn kein einziger Mensch, das zu konstatieren, vor mir steht, keiner zu mir aufschaut – oder bestünde auch ich nur als ein Sein im Bewußtsein zumindest eines Lebewesens?
wer mich filmt, könnte mit meiner Wiedergabe mittels Ein- und Ausschaltens meiner Herz-Lungen-Maschine mit mir so willkürlich verfahren wie das Schicksal oder die Götter mit euch menschlichen Kreaturen: Stürze noch dreimal zu Tal! Stehe still und erstarre! Rühr dich wieder, wie von mir zu neuem Leben erweckt! Und jetzt sei dir das Leben wieder genommen! Oder nein – ich belaß dich auf dem Bildschirm in Bewegung, bis denen da dämmert, daß sie nicht ein beschauliches Kontinuum deines dich-Ergießens vor Augen haben, sondern nur sich wiederholende fünfzig Sekunden!
des Wasserfalls, als der ich einer mir namentlich nicht bekannten Gegend angehöre, hat sich eine Bildende Künstlerin angenommen, wie eingangs von mich Betrachtendem angedeutet worden ist. meine Umwandlung in ein Kunstprodukt hat mir, dem fortbestehenden Vorbild, nicht die Seele geraubt, sondern die zugleich in ihren nun mir seelenverwandten Wasserfall einfließen lassen. dem Zugriff der Zeit hat sie mich fern von mir entraten lassen, hat mich, als mich nacherschaffende Herrin, wie ein Neugeborenes aus mir, aus meiner Natur herausgeholt, hat das mir innewohnende ‚Jetzt!‘ in eine Zeitlosigkeit versetzt, die nicht einem Zeitstillstand vorm Erstarren der Zeit gleichkommt, weil ein zeitlos verewigter Augenblick kein Gerinnen kennt. hat sie mich zu meinem selig in sich ruhenden Standbild gemacht? hat sie euch Kirchenbesucher – in einer Kirche befindet sich nun ja mein Abbild als eine Art Fastentuch oberm Hauptaltar – sehen machen, daß zum Himmel aufgestiegene Wolken sich als Regen auf die Welt ergießen? hat sie meinen Seelenzwilling animiert, die Asche, die schirmföhrenförmig den Kratern aktiver Vulkane entsteigt, in reinem Weiß einer Läuterung zuzuführen? halte ich, zu einem Springquell geworden, als eine Weihegabe wie weißer Weihrauch im Himmelwärtssteigen inne, als würde ich ein Gipfelkreuz wie am Karfreitag andere als ich die Gekreuzigten verhüllen? darf ich in weißer Wolkengestalt ein Gedenken sein des schwarzen Rauchs, als der die in den Gastod Getriebenenen aus Verbrennungsöfen aufgestiegen sind vor ihrem Einzug ins Paradies? entspringe ich bei ihr, meiner Nachschöpferin, als ein heiliger Springquell der Volksfrömmigkeit? darf ich mich als Inhalt einer vor Liebe überfließenden Brunnenschale empfinden, was immer es mit dem heiligen Gral auf sich hat, oder auch als der spiritus spermaticus, auf die davon Geheiligten ausgegossen? von dem reinen Weiß bin ich nun wie in einem Barockgedicht die Kirschblüte als eine Erahnung Gottes. transfiguriert hat sie mich Wasserfall Bleibendes, muß dabei nicht an den von einer Wolke umhüllt den Blicken seiner Jünger Entzogenen gedacht haben oder an die Himmelfahrt des Entmaterialisierten. sie möge aber so manchen von euch, da ihr Wasserfallweißes auf einem schwarzen Fastentuch ruht, an die Auferstehung jenes einen aus dem nachtschwarzen Grabesdunkel denken machen! und am Jüngsten Tag werde ich in dieser meiner zweiten Gestalt, als ein Meditationsbild sich lichtender Finsternis, der Prozession von Bildern, Statuen und Gedichten beigesellt werden, die euch verbrecherischer Menschheit Fürsprecher sein dürfen!
Julian Schutting