Langsames Wachsen
Ablagerung über Ablagerung. Der Stalagmit wächst vom Boden auf. Wann ist er vollendet? Das Wasser kann andere Wege gehen, ein Tropfstein kann brechen oder entfernt werden – aber vollendet ist er nie. Jede neue Ablagerung ändert die Gestalt, ohne sie je zur Vollendung zu bringen. Bilder von Veronika Dirnhofer haben etwas von Stalagmiten. Zuerst ist Ölmalerei mit Tusche auf Leinwand, pastos oder dünn aufgetragen. Das Gemalte hat mit seinen Strichen und Schwüngen immer wieder den Charakter einer Zeichnung. Auch Schnüre und Ketten werden eingefügt, Linien gleich. Die erste Fläche wird mit neuen Schichten überklebt, Papier oder Leinwand. Nicht das Arbeiten an der Vollendung einer Fläche wird hier gesucht, sondern die Überlagerung von Vorhandenem durch neu Hinzugekommenes, der Vorgang der Sedimentierung, wo sich im Lauf der Zeit eines über das andere legt. Es gibt keine Vollendung. Es gibt ein Ende, wenn eines der Bilder das Atelier verlässt und an einer fremden Wand zu hängen kommt.
Die Kunst von Veronika Dirnhofer ist zum einen Malerei und Zeichnung, zum anderen Gestaltung zeitlicher Abläufe. Eines legt sich über das Andere, als würde in der Erinnerung das jüngere Bild die schon früher dagewesenen immer neu verdrängen. Es ist fast so, als würden die Bilder eines Films alle übereinander gelegt. Alles ist da. Es ist nicht mehr sichtbar, aber es ist nicht zerstört, es ist unter dem Hinzugekommenen erhalten geblieben. Es könnte freigelegt werden. Aber das ist nicht notwendig.
Veronika Dirnhofer beendet den Malvorgang nicht durch Vollendung des Bildes. Sie beendet ihn durch Überlagerungen. Die Malerei wird an ein Ende gebracht, indem neu gemalte Flächen darüber gelegt werden. Jede Überlagerung bewirkt das Ende des Vorhergehenden. Eine Kunst, die in Ausübung der Malerei das Ende der Malerei immer in sich birgt. Diese Malerei bietet keine Raumillusion. Sie drängt in den Raum, indem sie Früheres zurücklässt und immer neue Anfänge setzt. So entsteht durch diese Kunst Raum, realer Raum, Lebensraum der Künstlerin und derer, denen diese Bilder entgegenkommen.
Gustav Schörghofer SJ