Schwebend fast
Das Bild zeigt den Petersplatz in Rom. Ganz oben der Palast des Papstes, daneben im Eck ein Stück Himmel, darunter ein Teil der Kolonnaden. Zwei Drittel der Bildfläche nimmt eine riesige Menschmenge ein. Nur der Teil einer noch viel größeren Menge ist zu sehen. Sie war am 4. Oktober 2004 zur Seligsprechung von Kaiser Karl versammelt.
Von der Terrasse über den Kolonnaden hat Katharina Struber diese Versammlung mit Video gefilmt. Sie hat keine Gesamtaufnahmen gemacht, keine Massen aus der Höhe im Überblick gefilmt. Sie hat etwa zwei Stunden lang die Kamera auf kleine Ausschnitte gerichtet, immer nur ein kleiner Fleck. Jeweils eine halbe Minute wurde ein kleiner Teil nach dem anderen gefilmt. Links unten beginnend wurden immer nur ein paar Mensch in einer Szene zusammengefasst. Stück für Stück wurde bis zur Architektur die Kamera immer wieder nur ein klein wenig weiter nach oben gerichtet. Und so hat Katharina Struber von links nach rechts Streifen für Streifen Einzelszenen gefilmt. Aus den Filmszenen wurden Einzelbilder gewählt. Diese sind zu einem Gesamten zusammengebaut worden, eine mühsame und langwierige Arbeit am Computer.
Was ist entstanden? Das Bild eine Masse, die den einzelnen Menschen völlig verschluckt? Das Bild einer mächtigen Institution, die über das Individuum triumphiert? Nichts von dem. Die mächtige Architektur ist in Bewegung geraten. Sie scheint zu tanzen. Die Menschen sind keine homogene Masse, kein gleichförmiger Haufen. Die Versammlung wirkt wie geronnene Milch. Es gibt Verdichtungen, wo Gestalten deutlich zu erkennen sind, und dazwischen verschwommene Partien. Immer wieder rutscht das Sichtbare ins Unfassbare. Fest umrissene Körper und dazwischen fast aufgelöste Erscheinungen. Im kreuzförmigen Korridor ist das sehr schön zu sehen. Die vielen Menschen sind nicht zu einer Masse zusammengeballt. Sie sind da und auch wieder nicht da, fassbar und nicht fassbar, erkennbar und dem Blick entzogen. Katharina Struber hat das Bild einer Vielzahl von Menschen geschaffen. Ein jeder, eine jede ist da und auch nicht da, gegenwärtig und zugleich abwesend. Die Gegenwart dieser Menge ist ein Kommen und Gehen.
Was sehe ich? Dass die Welt vor meinen Augen nicht einfach da ist, greifbar und verfügbar.
Sie besteht in der Zeit und entschwindet in ihr. Sie zeigt sich und entzieht sich wieder. Mit dem Bild dieser großen Menge hat Katharina Struber zugleich das Bild eines einzelnen Menschen geschaffen. Jede und jeder ist in sich eine Menge, ein Kommen und Gehen. Immer klar umrissen und einzigartig und immer unfassbar. Leicht tänzelnd. Schwebend fast. Und wunderbar besonders.
Gustav Schörghofer SJ