Gabriele Rothemann, Wasserfall, 2020, Sublimationsdruck auf KnitCanvas, 900×450 cm

Eine großformatige Fotografie von Gabriele Rothemann, „Blast (The way up and the way down is not the same)“, 2014, 220×128 cm, zeigt einen Wasserfall. Die originale Fotografie auf Barytpapier wurde digitalisiert und im Sublimationsdruck auf KnitCanvas übertragen. Während der Fastenzeit 2024 verhüllt sie das Hochaltarbild der Jesuitenkirche in Wien 1, eine Darstellung von Mariä Himmelfahrt.

Was in der Natur unten ist, das ist im Foto oben. Das natürliche Umfeld ist fast ganz in Schwarz versunken. Nur zu ahnen ist im Dunkel die hohe Felswand über die das Wasser nach unten stürzt. Doch im Foto stürzt es nicht abwärts, sondern hebt sich empor, einer Fontäne gleich oder einer Wolkensäule, einem Explosionspilz ähnlich oder einer im Meer schwebenden Qualle. Aus einem dichten Strang entfaltet sich schwerelos eine lichte Gestalt ins luftig Leichte, Faserige, Nebelartige. Die obere Partie ist fast schon losgelöst und bleibt doch eins mit dem Unteren. Im Schwarz wächst hier etwas vor den Augen der Betrachter empor, das sie noch nie gesehen haben. Oder ist es ihnen doch bekannt? Könnte es nicht ein Wolkengebilde sein, oder eine Explosion, oder ein fantastisches Tier, der einen Brunnen krönende Strahl hochschäumenden Wassers? Aus dem Schwarz des verstummten Vorstellungsvermögens tauchen neue Gestalten auf, nie geschaute Wesen, Erleuchtungen im wahrsten Sinn des Wortes. Was ist bloß aus dem Wasserfall, der schönen aber doch gewohnten Naturerscheinung geworden? Was wird nun mit einem Mal wahrgenommen? Die Dinge haben sich ihrer eindeutigen Wiedererkennbarkeit entzogen und sind in das Reich der Vieldeutigkeit geflüchtet. Das eine klar benennbare Abgebildete ist zum Bild geworden. Das Besondere der Kunst von Gabriele Rothemann ist, dass sie, die ja mit ihrer Kamera immer nur Vorgefundenes und Vorhandenes  fotografiert, analog fotografiert mit aufwändiger Technik, dieses Vorgefundene und Vorhandene in ein Bild zu wandeln versteht. Ein Bild, das heißt, das Gegebene und einfach Wiedererkennbare wird zur Offenbarung neuer Möglichkeiten der Wirklichkeit. Die Welt wird also geöffnet auf in ihr schlummernde neue Weisen der Wahrnehmung. So ruft das Bild des Wasserfalls die Erinnerung an bereits Geschautes oder Erlebtes wach, an Botschaften aus fernen Zeiten oder nie betretenen Räumen. Die Kunst von Gabriele Rothemann führt daher leise an den Rand des Wunders, mit zarter Hand gewissermaßen. Da gibt es dann etwas zu entdecken, das dem verengten, oft nur utilitaristisch orientierten Blick bisher entgangen ist. Ja, es ist ein Wasserfall. Aber es ist auch die Wolkensäule, die damals das Volk Israel durch die Wüste geleitet hat, es ist auch der zu schrecklicher Schönheit erstarrte Pilz einer Explosion, es ist der Blick auf leuchtende Tiere in den schwarzen Tiefen des Meeres, es ist der sieghafte Triumph des Wassers über alle Nötigungen der Schwerkraft, es ist die nicht zu vergessende Begegnung mit einer strahlenden Lichtgestalt im Dunkel der Nacht, als wären es Engel gewesen, es ist eine Himmelfahrt. Und wenn einer nur einen Wasserfall sieht, hat er auch Recht. Dann hat er aber noch viel zu lernen. Denn die Welt hält für jene, die zu sehen vermögen, mehr bereit als nur das eindeutig Erkennbare und ohnedies schon Gedeutete. Die Kunst vermag den Blick zu öffnen für neue Möglichkeiten und ganz andere Welten. Die Fotografie von Gabriele Rothemann zeigt das auf wunderbare Weise.

Gustav Schörghofer SJ