BARBARA EICHHORN
WHAT DO I SEE WHEN I SEE

24. September – 25. Oktober 2015

Die Beherrschung verlieren

Sprachen, Spiele, Künste können beherrscht werden. Man spricht korrekt, spielt nach den Regeln, kann zeichnen. Doch das ist erst ein Anfang. Denn jenseits des Beherrschbaren dehnt sich das Reich des Unkontrollierbaren, des Zufälligen. Jenseits der Zonen des Vorhersagbaren gibt es die weiten Areale des nicht Berechenbaren. Das haben die Naturwissenschaftler im 20. Jahrhundert entdeckt. Doch wir leben heute in einer Epoche der Kontrollen, der Beherrschung von allem und jedem, der Vorhersagen und Berechnungen. Heute muss das Reich des Unbeherrschbaren neu entdeckt werden. Warum? Damit die Welt wieder Geschmack bekommt, damit die Musik im Unerhörten beheimatet ist, die Kunst im Noch-nie-Dagewesenen, der Glaube im Wunder der Gnade. Hugo Ball schrieb 1926 in seinen Aufzeichnungen „Die Flucht aus der Zeit“: „Der  Sozialist, der Ästhet, der Mönch: alle drei sind sich darüber einig, dass die moderne bürgerliche Bildung dem Untergang zu überantworten sei. Das neue Ideal wird von allen dreien seine neuen Elemente nehmen.“ Fremde Töne für heutige Ohren. Doch klingt hier etwas an, das heute helfen kann.

Dass eine außerordentliche Zeichnerin die Kontrolle über das von ihr beherrschte Gebiet aufgibt, dass sie nicht ihr virtuoses Können vorführt, sondern sich mit verbunden Augen auf einen von ihr nicht mehr kontrollierbaren Prozess einlässt, ist etwas Außergewöhnliches. Etwas, das Mut erfordert und die Bereitschaft, sich zu exponieren, verwundbar zu machen. Beispiele für die Aufgabe der Kontrolle über den Prozess des Schaffens gibt es in der Kunst des 20. Jahrhunderts genug, bei Surrealisten, Aktionisten, Performancekünstlern, bei Versuchen unter Drogeneinfluss, orgiastischen und ekstatischen Schaffensprozessen. Barbara Eichhorn arbeitet nüchtern. Sie steht mit verbundenen Augen vor einem großen Blatt Papier und setzt Strich nach Strich, immer die gleiche Bewegung, ein Tun, das Sammlung erfordert, an der Schwelle zur Meditation. Was entsteht, ist jenseits der Virtuosität eines Schaffens, das Barbara Eichhorn ebenfalls möglich ist. Es entsteht aus einer durch die Zeit gelebten Hingabe. Ab 16. November wird ein großes Blatt Papier an der Emporenwand der Konzilsgedächtniskirche hängen. Im Lauf eines Monats wird Barbara Eichhorn dort immer wieder arbeiten, auch während eines Konzerts und eines Nachtgebets. Dann bleibt die Arbeit ein weiteres Monat hängen.

Gustav Schörghofer SJ

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