RALO MAYER

29. November 2012 – 20. Jänner 2013

1996 war Ralo Mayer zwanzig Jahre alt. Ich bin am 13. Jänner dieses Jahres in der Kirche S. Spirito in Florenz gestanden, einem Bau, der nach Plänen von Filippo Brunelleschi um die Mitte des 15. Jahrhunderts errichtet worden ist, und habe meine Beobachtungen notiert: „Auch hier in S. Spirito ist der Eindruck der eines Raumganzen, das in Teile gegliedert ist, differenziert ist, Steigerung hat und Verdichtung, einem Leib ähnlich. Dieses Ganze können wir in der Vorstellung gegenwärtig halten, um uns zu ihm in ein Verhältnis zu setzen. Wir durchschreiten den Raum und sind stets mit dem Ganzen verbunden, zum ganzen Raum in Beziehung.“

Warum ist das so? Dem ganzen Bau von S. Spirito liegt ein Modell zugrunde. Er ist in der Vorstellung entstanden und nach dem vorgestellten Modell gebaut. Es gibt nichts, was nicht schon vorher in der Vorstellung des Architekten da gewesen wäre. Das Modell, die Schöpfung des Künstlers, ist seit dem 15. Jahrhundert Ursprung von Wirklichkeit. Nach dem vom schöpferischen Menschen, dem Künstler, Wissenschaftler, Architekten, ersonnenen Modell wird Welt, wird Wirklichkeit gestaltet. Es ist eine vom Menschen erfundene und um ihn herum geformte Welt. In ihr ist alles auf den Menschen bezogen. Die Grenzen des Modells sind die Grenzen dieser Welt. Eine Gefährdung dieser Welt war denkbar. Doch wurde ebenfalls im Modell gezeigt, dass sie zu bewältigen war. Brunelleschi baute ein kapellengroßes Modell der Kuppel des Florentiner Domes, um zu zeigen, dass die von ihm geplante Konstruktion ohne tragendes Gerüst möglich war. Innerhalb der Grenzen der im Modell ersonnenen Wirklichkeit war alles an seinem Ort, war alles berechenbar, gab es keine unkontrollierbare Gefährdung.

Was ist jenseits dieser Grenzen? Gibt es ein Jenseits der Grenzen? Wie werden die Grenzen einer Welt überschritten?

Wir leben heute in Welten, die nach Modellen gestaltet sind. Ständig werden die Grenzen des im Modell Vorgesehenen überschritten. Modelle schaffen Wirklichkeit. Zugleich wird diese Wirklichkeit immer wieder in Frage gestellt. Neue Modelle sind notwendig. Und hier begegnen wir der Kunst von Ralo Mayer. Unleugbar ist er ein Kollege von Filippo Brunelleschi. Er baut Modelle und schafft Welten. Er lässt etwas entstehen. Er agiert, schafft Wirklichkeit, indem er etwas vorführt. Das wird von ihm „performative Recherche“ genannt. Lassen wir ihn einmal selber zu Wort kommen: „Meine künstlerische Praxis verfolgt ein breites Themenspektrum zwischen postfordistischen Realitäten, Raumfahrtgeschichte, höherdimensionalen Geometrie und anderer Science Fiction. Die 2006 an der Manoa Free University initiierte Rechercheserie HOW TO DO THINGS WITH WORLDS umklammert diese scheinbar sehr entfernten Schwerpunkte mit der Fragestellung, inwiefern wir durch Modellwelten nicht nur Wirklichkeit beschreiben, sondern durch die Erzeugung, Nutzung und Interpretation von Modellen auch Sprechakte setzen und somit agieren.“

Zugegeben, das klingt etwas kompliziert und im ersten Moment wohl nicht sehr hilfreich. Es ist auch ein bisschen viel, von Künstlern nicht nur Kunst sondern zugleich auch noch die Erklärung ihrer Kunst zu erwarten. Aber einige Hinweise gibt Ralo Mayer doch. Einmal auf die Weite seiner Themen. Da gibt es den Bezug auf neue, flexible Formen des Wirtschaftens und Produzierens, auf Science Fiction, auf die Raumfahrt, auf utopisch anmutende Entwürfe des Zusammenlebens und des Umgangs mit der Natur. In allen diesen Themenfeldern betreibt Ralo Mayer eine Untersuchung über die Bedeutung von Modellen. Modelle beschreiben nicht nur Wirklichkeit, sie schaffen Wirklichkeit. Nach John Langshaw Austin schafft die Sprache Wirklichkeit („How to do things with words“ – von Wolfgang Stegmüller formuliert: „Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen.“). Doch auch mit Modellen, mit Welten also, können Handlungen vollzogen werden. Die Erzeugung, die Nutzung, die Interpretation eines Modells ist ein Handeln. Die ersonnene Welt des Modells wird in eine Wirklichkeit umgesetzt. Dabei kann es allerdings zu Komplikationen kommen. Diese Schwierigkeiten stellt Ralo Mayer dar. Mit dem Scheitern von Modellen führt er Weltuntergänge vor.

Eine Ausstellung im Lentos Kunstmuseum in Linz (2011) hatte den Titel: Obviously a Major Malfunction / KAGO KAGO BE (Woran glauben die Motten, wenn sie zu den Lichtern streben). Die großen Bemühungen der bemannten Raumfahrt und die Katastrophen der Explosion und des Verglühens von zwei Raumfähren stehen im Hintergrund einer Installation, die alles das wie in einem Spiegel zeigt. Das Scheitern ist Teil eines neuen Modells nicht aufgebbarer gemeinsamer Bemühungen.

Die Ausstellung „… travelling through Biosphere 2, or: Anastylosis of Follies“, 2010 in Brüssel, knüpfte an ein großes Experiment zu Beginn der 90er Jahre an, die Biosphere 2, „einem zwischen 1987 und 1991 in  Arizona als abgeschlossenes Ökosystem konstruiertem Glashaus, in dem acht WissenschaftlerInnen für die Dauer von zwei Jahren die Vision einer Welt im Kleinen und deren Scheitern erlebten.“ (Ralo Mayer)

Biosphere 2 erinnert an Kristallpaläste des 19. Jahrhunderts und an die Entwürfe von Raumstationen des 20. Jahrhunderts. Sie ist das Bild einer Utopie, in ihr spiegelt sich die Aufbruchsstimmung der 1960-70er Jahre, Modelle einer neuen Gesellschaft. 1989 mit seinen großen Hoffnungen und Träumen kommt auch in den Sinn. Alternative Lebensweisen wurden gesucht, ein Denken aus globaler Verantwortung eingeübt. Das Scheitern der Biosphere 2 spiegelt im Kleinen das immer wieder erfahrene Scheitern im Großen. Ralo Mayer führt zwar das Scheitern vor Augen. Zugleich aber ist seine Installation und gesamte Vorgehensweise die modellhafte Darstellung eines Wegs durch dieses Scheitern hindurch.

Ralo Mayer stellt Modelle nicht nur dar, er stellt sie zugleich in Zweifel. Er zeigt das Scheitern des im Modell Vorgestellten, Zerstörung, Auflösung, Desaster. All das ist verknüpft mit der Auflösung leiblicher Ganzheit.   Astronauten verbrennen, werden zerrissen, Gemeinschaften lösen sich auf, werden zersprengt. Scheinbar heile Welten werden zerstört. Der historische Zeitraum von den 60er Jahren bis zum beginnenden 21. Jahrhundert ist für diese künstlerische Arbeit ein wichtiger Bezugsrahmen, Aufbrüche und Zerstörung von Utopien, das Scheitern von Welten am Widerstand anderer Welten. Das Scheitern von Menschen an den Bedingungen ihrer Existenz. Das alles wird jedoch nicht behauptet oder einfach dokumentiert, sondern vorgeführt, erfahrbar gemacht, gegenwärtig gesetzt. Charakteristisch für die Kunst von Ralo Mayer ist, dass sie das Scheitern von Modellen selber wieder als Modell darstellt.

Im Spiegel eines Kindergesichts, im Spiegel der Relikte, im Spiegel des Rückblicks kann das Scheitern als Modell von etwas anderem erfahrbar werden. Ralo Mayers Kunst zielt auf einen Punkt jenseits gültiger Modelle, aktueller Einsichten, gegenwärtiger Vorstellungen, bestehender Weltenwürfe. Sie hat etwas Anarchisches, da sie eine Auflösung vorgestellter Ordnungen darstellt. Durch die Darstellung wird aber zugleich die Möglichkeit einer anderen Welt real erfahrbar. Darin bewahrt sie das Bewusstsein der großen Aufbrüche, einer globalen Verantwortung. All das ist weit jenseits jenes Weltmodells, das sein Kollege Filippo Brunelleschis mit S. Spirito geschaffen hat. Aber gerade hier nähert sich diese der Gegenwart verpflichtete Kunst dem Planeten des Glaubens an.

Die jüngste Ausstellung von Ralo Mayer im JesuitenFoyer in Wien 1 ist macht einen merkwürdig düsteren Eindruck. Da ist viel Schwarz. Eine große Bananenstaude ist am Vertrocknen. Holz ist verkohlt. Es gibt gespiegelte Bilder, flackernde Bilder, fahle Farben. Die Stimme eines Kindes ist zu hören, emotionslos, als würde sie von Dingen berichten, die das Kind nicht versteht. Die Stimme einer jungen Frau klingt wissenschaftlich sachbezogen, sehr distanziert. Die Bilder eines Videos werden von einem Glas vor schwarzem Grund gespiegelt. Die Dinge sehen wie in einem Spiegel, fern, nicht fassbar. Die Bilder eines anderen Videos blinzelnd sehen. Oder vorüberrasend. Blinzelnde und rasende Bilder, auch sie nicht fassbar, sich ins Ferne verlierend. Oder schauen: Bilder sehen, als wären sie eine Erscheinung, fremd. Die Videoarbeiten führen alle diese Weisen des Sehens vor. Sehen immer ungewiss. Dann gibt es eine Menge von Gesammeltem, Erinnerungsstücke, auch scheinbarer Abfall, und verkohltes Holzgerüst. Ein Vorhang führt die strenge und regellos scheinende Geometrie einer Penrose-Parkettierung vor. In diese Strenge ist die verwelkende Bananenstaude hineingestellt, ein bizarrer Organismus fern des Kristallinen der Geometrie. Zwischen Plexiglasscheiben wird eine Art Raumfahreranzug frei im Raum aufrecht gehalten, eine leere Hülle.

Die Ausstellung versetzt in einen Zustand des Rückblicks, der Erinnerung. Als Betrachter stehe ich inmitten von Relikten. Hier ist etwas zu sehen, das an Geschehenes erinnert, das Erinnerungen wachruft, mir keine Ruhe lassen will. Flimmernd sausen Bilder vorbei, eine Stimme erzählt von etwas nicht Sichtbarem, im Spiegel tauchen  Bilder auf, im Spiegelbild wird von etwas berichtet. Das alles kann als Modell betrachtet werden. Ein Modell wofür, wovon?

Im Sommer 1942 lag mein Vater mit dem Gesicht zum Boden im Heidekraut am Ufer eines finnischen Sees. Über ihm russische Flugzeuge, Maschinengewehrfeuer. Heiße Patronenhülsen und Fetzen des Patronengurts fielen auf ihn. Vor seinen Augen in rasendem Tempo Bilder seines Lebens.

Ich sehe diese Erzählung als Modell eines intensiven Lebens am Rand der Auslöschung, vor Augen zugleich das volle Leben und die Vernichtung. Die Ausstellung von Ralo Mayer kann auch als Modell vor Augen gestellt werden. Das Modell eines Zustands zwischen strenger und nicht überblickbarer Ordnung und Verfall, Auflösung. Ein Bild dafür sind Bananenstaude und Penrose-Parkettierung. (Benannt nach Roger Penrose; das Zusammenfügen von zwei Grundflächen nach bestimmten Regeln ergibt eine lückenlose Fläche, auf der sich kein Grundschema periodisch wiederholt und jeder endliche Ausschnitt sich unendlich oft wiederfindet.)  Die strenge Geometrie der vom Kleinen sich ins Unendliche weitenden Flächenkombinationen und das Ungeordnete der in sich versinkenden, verlöschenden Bananenstaude. Als Modell betrachtet führt die Ausstellung an eine Schwelle. Das Gewesene ist noch in fernen Bildern gegenwärtig, aber von ihm geht nicht mehr bestimmende und gestaltende Kraft aus. Die Gegenwart liegt in Trümmern. Ein Stillstand. Ein Schwebezustand – wie der scheinbar schwebende Raumanzug, das blinzelnde Sehen, die gespiegelten Bilder, Staude und Vorhang. Und dann, was kommt dann?

Eine Betrachterin, ein Betrachter werden in ihre Gegenwart gestellt. Sie sind in Freiheit. Die Modelle, Utopien von einst sind nicht die ihren, bestimmen nicht ihre Zukunft, legen sie nicht fest. Auch nicht die Katastrophen, das erinnerte Scheitern. Betrachter und Betrachterin leben, kein Bein ist ihnen gebrochen. Sie können gehen, gestalten, das Unterbrochene auf neue und ungeahnte Weise weiterführen. Aus dem Düsteren werden sie ins staunende Wahrnehmen ihrer selbst, der eigenen Möglichkeiten geführt. Und so ernst die von Ralo Mayer berührten Themenbereiche sind, so wenig fehlt es an Witz. Auch das gehört zum Modell-Charakter des Ganzen. Es zwingt nicht. Es verlockt durch feinen Witz. Bei gleichbleibend ernstem Gesichtsausdruck.

„Steh auf!“ und „Geh in Frieden!“ heißt es in den Evangelien immer wieder. Jesus sagt das zu Toten und Bewegungsunfähigen. Erfahrungen können töten und bewegungsunfähig machen. Doch es gibt auch ein Jenseits dieser Erfahrungen, ein Jenseits verlorener Utopien und erlittenen Scheiterns. Es braucht ein Wort, das dazu verlockt, aufzustehen und zu gehen. Der Glauben macht dieses Wort hörbar. Auch die Kunst kann es vernehmbar machen. So gesehen, hat die Kunst von Ralo Mayer durchaus etwas mit Glauben zu tun. Sie kann helfen, ihn besser zu verstehen. Der Glaube kann helfen, manches an der Kunst präziser wahrzunehmen.

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